Schreiben

zeitenwende


1

ich lasse die zeitung sinken mein atem ist aus dem takt
alles ist plötzlich verschwommen tisch wände meine hände

ich habe von so viel geld gelesen dass wir allen kindern
blätter ins haar weben und rinde auf die haut streuen könnten

dass wir den beton unter ihren füßen aufbrechen
dass wir den himmel fegen den regen feiern könnten

wir könnten den tagen wieder licht in die augen träufeln
doch ich finde in der zeitung nur metall maschinen munition

ich bekomme nicht genug luft ich trete auf die straße
die augen der leute sind kruppstahlblau

und meine sind es auch es wird dämmrig mitten am tag
als hätte sich die sonne von uns abgewandt

ich irre durchs viertel es dauert stunden
ich sehe den häusern die ruinen an


2

der körper meiner mutter war ein gefäß
das zeit ihres lebens vom krieg bewohnt wurde

der krieg kroch in der mitte der nacht hervor
und fraß ihre träume und spie sie wieder aus

wenn sie wach wurde grinste er sie an und jedesmal
fuhr ihr der schreck in die gefrorenen knochen

wenn ich laute musik hörte stürzte sie ins zimmer
und flehte gegen das sirren der synthesizer an

was sie hörte
war das sirren fallender bomben

ich drehte den ton leiser sie schloss die tür
doch der krieg blieb bei ihr grau und gefräßig

und erst mit vierundneunzig jahren einen tag vor ihrem tod
weinte sie und lachte und sagte jetzt sei es gut


3

im kopf meines vaters saß ein gnom
der beständig inschriften in grabsteine schlug

er hatte damit an dem tag begonnen
an dem meines vaters jüngster bruder gestorben war

und als sein ältester bruder nicht aus dem krieg heimkam
arbeitete der gnom fortan auch des nachts

er schlug buchstabe für buchstabe name für name
auch als der krieg aus war war der krieg nicht vorbei

jeder schlag erinnerte meinen vater
an seine schuld am leben zu sein

jeden tag saß er da in seinem korsett
aus grundsätzen und zusammengebissenen zähnen

und die liebe die er sich aus seiner haut wringen musste
war oft bitter und faserig und zäh


4

einer meiner großväter war nach außen still
der andere war es nach innen

sie waren so jung als der erste krieg kam danach
waren sie es nicht mehr und dann kam noch der zweite

der eine großvater verachtete die nazis war aber in der partei
der andere glaubte an den endsieg bis es nichts mehr zu glauben gab

der eine spielte geige das instrument schrie
und er schenkte es mir schenkte mir seine qual

danach vergrub er sich in seinem schweigen
und fand nicht mehr daraus hervor

der andere hüllte seine scham in feinen zwirn
häufte geld und gut auf das gift in seinem kopf

und weil es nichts half rauchte er und soff
und als er so alt war wie ich war er schon tot


5

meine beiden großmütter
hatten diesen zug um den mund

der entsteht wenn beständiger gram
das herz flachdrückt

die eine klang wie der leibhaftige frost
und nur wenn sie sang war ihr puls zu spüren

die andere hätte freiwillig niemals leben geschenkt
weil jedes leben einem baldigen tod geweiht war

und alle kinder die sie gebaren waren nachtschattengewächse
und auf den straßen verneigten sich die krähen

am ende waren beide großmütter so klein so geschrumpft
die schädel wie mit lumpen bespannt

und noch um ihren eigenen tod mussten sie kämpfen
weil nichts umsonst war weil es nirgendwo gnade gab


6

wir tragen die wunden unserer ahnen in uns
sie heilen nur wenn wir sie mit balsam bestreichen

jeden morgen jeden abend hundert jahre lang
und wenn wir keine neuen reißen

von meinen großeltern habe ich gelernt ein jeder mensch
der einen anderen tötet tötet in ihm sich selbst

von meinen eltern habe ich gelernt mein leben
für meine kinder zu geben aber nicht für ein land

was soll ich mit einem land in dem die toten wohnen
und in den wäldern beugen sich die bäume in trauer

die berge wachsen aus angehäuftem gebein die täler
sind mit ausgerissenen schmetterlingsflügeln gefüllt

und alles getier ist auf der flucht vor uns
und die flüsse sind salzig und weiß


7

meine eltern haben mich dinge gelehrt die ihnen
niemand beigebracht hat und die sie selbst kaum konnten

sie haben mich gelehrt wie man steinen wolken schnee zuhört
und wie man auf das wispern im innern des körpers achtet

bei ihnen habe ich trotz allem gesehen wie man
über eine wange streicht was es heißt sich jemandem zuzuneigen

und wie man an neujahr mit einer feder einen kreis um sich zieht
ihn aber so bemisst dass man darin nicht allein bleiben muss

auch ich verberge hinter meinem brustbein kleine kästchen voll von
argwohn und angst doch ich weiß wie man die arme ausbreitet

und mit der heiterkeit des windes haben mir meine eltern gezeigt
dass so lange wir leben nicht der tod unsere wichtigste aufgabe ist

heute danke ich abends der nacht für die dunkelheit
aber ich bitte sie sie wieder mitzunehmen wenn sie am morgen geht