Schreiben

Himmelsfalter

als ich neulich quittungen sortiert habe

für die steuererklärung fürs vergangene jahr

fiel mir ein beleg in die hände ein cafébesuch zwölf euro zehn

ich war mit meiner mutter dort

ich sehe die mandeltorte vor mir die sie immer genommen hat

und ständig ihre sonderwünsche

den kaffee sehr heiß bitte aber nicht so viel schaum bitte

und noch ein extrakännchen milch bitte

ich habe jedesmal die augen verdreht

ich sehe sie vor mir wie sie mich zu sich gewinkt hat

sie konnte nicht mehr sprechen sie nahm mich in die arme

und hielt mich bis mir der rücken wehtat

dann schob sie mich weg

doch sie ließ meinen arm nicht los

und das zittern lief durch ihren körper

es begann an den füßen

und als es ihre stirn erreichte

schwirrten tausend blaue himmelsfalter durch den raum

es dauerte bis sie sich niederließen

auf der bettdecke auf dem wecker

auf dem hörgeräteetui

ich saß draußen im flur

und telefonierte mit meinen schwestern

ich sah die silhouette aus den augenwinkeln

ganz langsam kroch das licht in den neuen tag

und als ich ins zimmer zurückkam waren auch die anderen da

und die falter saßen auf ihren köpfen und schultern

mein vater mein bruder sämtliche großeltern

die tanten die onkel entfernte verwandte

und leute die ich gar nicht kannte

sie grüßten freundlich einige umarmten mich

ich nickte bloß

meine mutter war schon fern

manche schwiegen

manche schwatzten

einer prüfte den zustand der schleiflackmöbel

mein bruder und mein vater legten sich stumm die karten

und nebenan im wohnzimmer

spielte jemand das cembalo das dort nicht stand

spielte bach spielte beschwingt

und endlich sprang ich hoch und stürzte zum fenster

und riss es auf so weit es ging